70 mal 7
70 mal 7! Unglaubliche 490-mal sollen wir der Schuldner:in ihre Schuld erlassen, dem Schuldigen seine Sünden. Gefordert ist eine permanente Ent-Schuldung für Wiederholungstäter.
Wenn die Zahl nicht ohnehin schon unglaublich hoch wäre – die Erzählung vom
König und seinen Knechten (Mt 18,21–35) macht noch einmal unmissverständlich
deutlich, welch grenzenloses Engagement Jesus von seinen Jüngern erwartet. Die
Zahl 490 ist eine utopisch große Zahl. Sieben ist nach biblischem Verständnis
die Zahl der Vollkommenheit (Erschaffung der Welt in sieben Tagen, sieben
letzte Worte Jesu, sieben Wunder Jesu …). Siebzigmal siebenmal bedeutet also:
Es gibt keine Obergrenze, wenn es darum geht, zu vergeben, Vergebung zu empfangen.
Eine solidarische christliche Gemeinschaft gibt immer wieder neu die Chance zum
Neu-Anfang, zur Ent-Schuldung, zur Tabula rasa.
Fragen nach dem moralischen Handeln und nach dem guten Leben sind für das
Matthäusevangelium konstitutiv (vgl. auch die Bergpredigt, Mt 5–7). Die Frage
nach der Realisierbarkeit solcher Spitzenforderungen („Wenn dich einer auf die
rechte Wange schlägt, dann halte ihm die andere hin!“) stellt sich Matthäus
nicht. 490 Erfahrungen von Unrecht – 490-mal vergeben, das ist der Anspruch!
Und den artikuliert Matthäus sehr prononciert. Was für ein Optimismus in einer Welt,
in der es mehr als 490 Gräueltaten zu vergeben gibt. In der jeden Tag neu lange
Schatten menschlichen Versagens und tiefe Gräben der Gewalt sichtbar machen:
Zukunft und Zusammenhalt werden nur möglich sein, wenn wir einander vergeben.
Wenn wir Schlussstriche ziehen und Erbarmen haben.
Eine Unsumme, umgerechnet Milliarden oder Billionen
Es lohnt sich, die Ausgangssituation im Gleichnis, das Jesus erzählt, näher zu
betrachten: Der Sklave (die Einheitsübersetzung nähert das griechische ὁ δοῦλος
an unseren Sprachgebrauch an und übersetzt mit „Knecht“) schuldet dem König
10.000 Talente. Eine Unsumme, die heute im Bereich der Milliarden oder Billionen
anzusiedeln wäre. Damit ist klar: Der antike Arbeitnehmer könnte die Schulden
niemals auch nur annähernd begleichen. In seiner Verzweiflung wirft sich der
Knecht vor dem König nieder. Von Bibelwissenschaftler:innen und
Historiker:innen wissen wir, dass eine solche Proskynese im Orient vor
Herrschern und Göttern üblich war, für Mitteleuropäer:innen im 21. Jahrhundert
hingegen ist sie mehr als befremdlich – und zugleich unmissverständlich: Wer in
tiefster Not sichtbar macht, wie existenziell seine Verzweiflung ist, erniedrigt
sich nicht, indem er sich niederwirft. Sondern: Er lüftet sein Geheimnis und
öffnet, indem er das Ausmaß des Elends nicht mehr unsichtbar lässt, das Herz
dessen, der ihm seine Schuld erlassen kann. Am Anfang jeder Ent-Schuldung steht
der Mut, über die eigenen Schulden zu sprechen. Das gilt im biblischen Kontext
ebenso wie in unseren Caritas-Schuldnerberatungsstellen.
Es gilt aber auch da, wo unsere Schuld sich zulasten unserer Umwelt auftürmt.
Wo mit dem CO2-Verbrauch der westlichen Welt die Erde insgesamt weit ins Obligo
hineingerät.
Wer weiß, dass er die Erde von seinen Kindern
geborgt hat, wird mit seinem Lebensstil die Ressourcen nicht einfach verzehren,
die für ein glückliches Leben morgen dringlich gebraucht werden. Wer seine persönliche
Freiheit heute zulasten der Freiheitsrechte von morgen auskostet, lebt auf
Kosten der Zukunft. Wenn uns die große Schuld, die wir mit unserer Lebensweise aufgehäuft
haben, erlassen wird, sind wir gefordert, gemeinsam mit denen, die ihrerseits
kleinere Schulden haben auflaufen lassen, eine gemeinsame Zukunftsperspektive
zu entwickeln.
Wer meint, doppelt profitieren zu können, indem ihm seine Schuld erlassen wird,
er die Schuld der anderen aber kleinlich eintreibt, dem wird der Neuanfang
verwehrt werden. Nur gemeinsam haben wir eine Chance.
Klimaschutz, der allen nutzt
So steckt in der sperrigen Gleichnis-Erzählung am Ende doch eine Ermutigung.
Ja, sie hat Anklänge an das, was Dagmar Reemtsma, Großmutter der
Klimaaktivistin Luisa Neubauer, ihrer Enkelin mit auf den Weg gab: „Wir haben
keine Zeit mehr, darauf zu warten, dass es für alles und eden genug Regeln
gibt. Die ökologischen Krisen werden jeden Tag gefährlicher und jeden Tag schwinden
unsere Chancen, das Schlimmste noch zu verhindern. Wir müssen … heute loslegen.
Mitdenken und mitmachen. Und da sind diejenigen, die mehr machen können,
natürlich auch mehr gefragt.“ (aus: Gegen die Ohnmacht. Meine Großmutter, die
Politik und ich, Tropen-Verlag 2022, S. 23) Diejenigen, die mehr haben, können
und müssen mehr (ver-)geben.
Der Deutsche Caritasverband setzt sich in diesem Jahr besonders für einen
sozial gerechten Klimaschutz ein: für einen Klimaschutz, der allen nutzt! Und
er richtet sich damit gerade auch an diejenigen, deren Lebensweise unsere Erde
besonders belastet – an die Menschen mit hohen Einkommen und üppigem Konsum in
unseren Breiten. Am Caritassonntag 2023 liest sich das heutige Evangelium
insofern als eine Aufforderung, das scheinbar Unmögliche zu wagen: siebzigmal
sieben Versuche zu unternehmen, ein nachhaltigeres Leben zu führen. Ohnmacht in
Zukunftsmut zu wenden und sich persönlich, verbandlich und politisch für
Neu-Anfänge zu engagieren.
Eva Maria Welskop-Deffaa
Präsidentin des Deutschen Caritasverbandes